Die US-Notenbank zieht die Zügel schneller an als gedacht. An den Bond- und Aktienmärkten dürfte es im neuen Jahr zu stärkeren Schwankungen kommen, und die Zinsen könnten steigen. Value-Werte und Dividendenaktien könnten hochbewerteten Wachstumstiteln den Rang ablaufen.
Die Autoren
Das Analystenteam von DJE beobachtet und bewertet die Märkte laufend anhand der hauseigenen FMM-Methode nach fundamentalen, monetären und markttechnischen Kriterien. Einmal im Monat fassen sie ihre Ergebnisse zusammen. Im Gespräch mit dem Wall Street Experten und Finanzjournalisten Markus Koch geht der Leiter der DJE Research Abteilung, Stefan Breintner, auf die zentralen Thesen ein.
Überblick November 2021
Die Pandemieproblematik wird uns sicher noch länger begleiten, aber unserer Ansicht nach nicht mehr zu einem stärkeren Börsenrückgang führen. Insgesamt bleiben wir für die restlichen Handelstage des Jahres 2021 und für den Beginn des Jahres 2022 konstruktiv. Eine „Seitwärtsentwicklung mit freundlicher Tendenz“ dürfte weiterhin das realistischste Szenario sein. Vieles wird 2022 nach dem Auslaufen der Anleihenkäufe durch die US-Notenbank Fed von der Entwicklung der Zinsen abhängen: Spätestens ab dem Sommer 2022 fällt mit der Fed eine wichtige Nachfragekomponente auf den US-Anleihemärkten weg. Mehr Volatilität bei den Anleihekursen und moderat steigende Zinsen sind demzufolge wahrscheinlich. Value1-Aktien könnten 2022 daher besser laufen als teure Wachstumswerte2. Wir setzen, wie schon in den Monaten zuvor, weiterhin auf eine ausgewogene Positionierung ohne zu große Sektor- Über- bzw. Untergewichtungen.
Fundamentale Aussicht
- Bis die chinesische Konjunktur wieder Fahrt aufnimmt, dürfte es dauern
- Hohe Energiepreise könnten einige Unternehmen in Europa belasten
Die Konjunkturentwicklung könnte unserer Meinung nach 2022 in Europa und den USA weiterhin positiv überraschen. In China sollte es aber zunächst schwierig bleiben, denn auch wenn Peking jetzt mit Stimulierungen beginnen würde, wird es dauern, bis die Wirtschaft wieder Fahrt aufnimmt. Vor allem muss man die Anleihenkurse der großen chinesischen Immobilienentwickler weiterhin im Auge behalten. Eine schwächere Entwicklung auf dem chinesischen Absatzmarkt könnte ebenso ein Belastungsfaktor sein wie die hohen Energiepreise, vor allem in Europa. Diese können die Margen z.B. bei energieintensiven Unternehmen unter Druck bringen. Firmen mit sehr hohen Energie- oder Personalkosten und geringer Preissetzungsmacht3 stehen wir daher skeptisch gegenüber.
Monetäre Aussicht
- Am US-Anleihenmarkt sollten Volatilität und Zinsen steigen
- Eine Normalisierung der Inflationsraten im Jahr 2022 bleibt Basisszenario
Die Inflationsentwicklung wird eines der dominierenden Themen an den Kapitalmärkten bleiben. Wir gehen weiterhin davon aus, dass es vor allem ab der zweiten Jahreshälfte 2022 zu einer stärkeren Entlastung kommt. Auch wenn die Fed ihre Anleihenkäufe noch schneller drosselt (Tapering) als bisher geplant und in den USA bis zu drei US-Zinserhöhungen im Jahr 2022 anstehen, bleibt der Ausblick unserer Meinung nach aus monetärer Sicht positiv: Denn durch die vorangegangenen Maßnahmen ist nach wie vor Liquidität im Übermaß vorhanden. Die Zinsen sollten im Trend weiter moderat ansteigen, aber nicht in einem Ausmaß, das für die Aktienmärkte gefährlich wäre. Die US-Notenbank tritt ab Sommer nächsten Jahres nicht mehr als signifikanter Anleihenkäufer auf, daher rechnen wir für 2022 mit einer deutlich höheren Volatilität am Anleihen- und am Aktienmarkt. Generell dürften die (US-)Anleihenmärkte im kommenden Jahr wieder mehr von den Investoren und nicht von den Notenbanken bestimmt werden. Wir setzen daher weiter auf kurze Durationen. In Europa ist dagegen noch keine Tapering-Diskussion in Sicht, daher erscheint Europa aus dem monetären Blickwinkel attraktiver.
Markttechnische Aussicht
- Im Vergleich zum Vormonat klar verbessert
- Aber: Marktbreite insgesamt nicht gut
- Rekordpessimismus am Rentenmarkt
Die Markttechnik hat sich gegenüber dem Vormonat verbessert. So liegt der NAAIM4-Indikator, welcher die Investitionsquoten von institutionellen Investoren misst, aktuell wieder bei knapp unter 70% (nach über 100% Anfang November). Auch das US-Put/Call-Ratio5 ist nach einer überkauften Situation wieder auf neutral zurückgegangen. Einige technische Indikatoren geben aktuell Kaufsignale, dasselbe gilt für Sentiment-Indikatoren wie den Fear-&-Greed-Index6. Die Marktbreite, gemessen an den Advance-Decline-Linien7, sieht hingegen deutlich schlechter aus: So liegt die Nasdaq8-AD-Linie derzeit unter dem Niveau von März 2020, als Corona als Schwarzer Schwan für einen Ausverkauf an den Börsen sorgte. Das zeigt, dass 70% des diesjährigen Nasdaq-Anstiegs auf nur fünf große Aktien zurückzuführen sind. Darüber hinaus herrscht ein Rekordpessimismus an den Rentenmärkten. Antizyklisch betrachtet ist das für Bonds weiterhin positiv.
Sektoren und Länder Aussicht
- Ausgewogenes Portfolio vorteilhaft
- Keine zu großen Über- bzw. Untergewichtungen
- Banken- und Versicherungssektor attraktiv
Wir halten an einer ausgewogenen Portfolioallokation ohne zu starke Über- bzw. Untergewichtungen fest. Moderat steigende Zinsen und eine möglicherweise wieder bessere Kreditnachfrage dürften den Bankensektor generell weiter stützen. Wir halten den Bankensektor daher weiterhin für attraktiv. Auch der Versicherungssektor bietet unserer Meinung nach ein sehr gutes Chance-Risiko-Verhältnis. Vieles spricht dafür, dass Value-Aktien 2022 besser laufen sollten und 2022 ein gutes Jahr für Dividendenaktien werden könnte – ähnlich wie nach dem Platzen der Technologie-Blase ab 2004. Zwar lassen wir profitable Wachstumswerte nicht außer Acht. Aber Vorsicht ist unserer Meinung nach weiter bei hochbewerten Technologie- und Wachstumstiteln geboten. Regional bevorzugen wir unverändert Europa und die USA vor den Schwellenländern.
Währungen/Rohstoffe/Gold
- US-Dollar-Stärke könnte anhalten
- Edelmetalle und Rohstoffe weiter unter Druck
Die jüngste Dollarstärke könnte noch weiter anhalten, und darunter leiden Rohstoffe und Edelmetalle generell. Kurzfristig erscheint der US-Dollar zwar aus markttechnischem Blickwinkel etwas überspekuliert, aber die Tendenz zu einer anhaltenden Dollarstärke ist gegeben: u.a. aufgrund der im Vergleich zu Europa weniger expansiven Notenbankpolitik und des zuletzt geringer ausgefallenen US-Handelsbilanzdefizits. Gold schätzen wir weitgehend neutral ein. Nach wie vor kommt hier die ETF-Nachfrage nicht in Schwung, und tendenziell steigende Anleiherenditen könnten Gold belasten.
Fachbegriffe
1 Value-Strategie: Hinter der Value-Strategie (engl. Value = Wert) steht die Idee, dass an der Börse Unternehmen zu finden sind, deren eigentlicher Wert gegenwärtig von Marktteilnehmern noch nicht erkannt wird (unterbewertete Unternehmen).
2 Growth-Strategie: Die Growth-Strategie (engl. Growth = Wachstum) konzentriert sich weniger auf die Analyse von Einzelunternehmen als auf die Betrachtung ganzer Branchen. Der Growth-Investor versucht, frühzeitig zukünftige Wachstumsmärkte zu erkennen und dann die Unternehmen mit der höchsten Wachstumsdynamik auszuwählen.
3 Unternehmen mit hoher Preissetzungsmacht sind Firmen mit starken Marken, wie der iPhone-Riese Apple, oder solche, die eine starke Marktposition besetzt haben, wie der Softwarehersteller Microsoft oder der Online-Handelsriese Amazon.
4 NAAIM (National Association of Active Investment Managers): Der NAAIM-Exposure-Index bildet das durchschnittliche Engagement seiner Mitglieder an den US-Aktienmärkten ab. Der NAAIM-Index ist nicht vorausschauend, sondern bietet einen Einblick in die tatsächlichen Anpassungen, die aktive Risikomanager in den letzten zwei Wochen an Kundenkonten vorgenommen haben.
5 Put/Call-Ratio = Verhältnis zwischen Kauf- und Verkaufsoptionen. Wenn Verkaufsoptionen überwiegen, deutet dies nach vorherrschender Meinung auf eine negative Marktstimmung (Börsensentiment). Überwiegen dagegen Kaufoptionen, deutet dies aus dieser Sicht auf eine positive Marktstimmung. Tatsächlich ist häufig nach hohen Put-Call-Verhältnissen ein Ansteigen der Kurse zu beobachten. Das PCR gilt deshalb als ein Kontraindikator. Dabei ist zu beachten, dass unter normalen Bedingungen weniger Verkaufsoptionen als Kaufoptionen nachgefragt werden; ein ausgeglichenes PCR nahe 1 gilt daher schon als Anzeichen einer leicht negativen Marktstimmung.
6 Der Fear-&-Greed-Index ist ein von dem US-Fernsehsender CNN Business (Cable News Network) erstellter Sentiment-Indikator, der die Emotionen der Anleger an der Börse auf einer Skala von 0 bis 100 messbar machen soll. Hohe Werte lassen auf eine extreme Gier (Greed), tiefe Werte auf Panik (Fear) schließen. Ein Wert von 50 wird als neutral gewertet.
7 AD-Linie (Advance-Decline-Linie): Marktbreite-Indikator der zeigt, ob mehr Aktien steigen oder fallen. Um eine Aussage über die Gesundheit des breiten Marktes treffen zu können, eignen sich Indikatoren zur Messung der Marktbreite teilweise besser als ein Aktienindex. Besonders bei Trendwenden (Top- und Bottom-Formationen) sind die “klassischen” Aktienindizes eher träge. D.h., wenn z.B. ein neuer Bärenmarkt entsteht, und eine Vielzahl der Aktien schon stark gefallen sind, ist das im Index erst recht spät erkennbar.
8 Nasdaq = National Association of Securities Dealers Automated Quotation System. Computerbörse der US-amerikanischen Freiverkehrshändler in New York. An der Nasdaq werden besonders wachstumsträchtige, aber auch spekulative, also schwankungsanfällige Werte gehandelt.